UH2:Flexibilisierung in der Prozessindustrie
UMSETZUNGSHILFE Nr. 2
Flexibilisierung in der Prozessindustrie
September 2009, UH als PDF downloaden
Der Kunde ist König! Die Märkte in Europa sind für viele Produkte gesättigt. Eine stärkere Ausrichtung an Kundenbedürfnisse ist für Produzenten häufig die letzte verbleibende Möglichkeit, um in den gesetzten Märkten überhaupt noch Wachstum zu generieren. Zusätzlich wird sich das Durchschnittsalter der Verbraucher in den größten Volkswirtschaften der Welt (USA, Japan, Deutschland, aber auch in China) in den nächsten Jahren deutlich erhöhen. Während jugendliche Konsumenten häufig nach Gleichförmigkeit streben und Standard-Ware akzeptieren, erwarten ältere Konsumenten eine konsequente Anpassung an ihre Bedürfnisse. Deshalb wird zukünftig die Produktvielfalt weiter steigen.
In der Stückgüterherstellung ist Losgröße „Eins“ bereits seit Jahren ein Schlagwort. Nur, wie können Unternehmen der Prozessindustrie auf die Herausforderungen der zunehmenden Produktdifferenzierung reagieren? Bei zunehmender Produktdifferenzierung führen traditionelle Losgrößen zu heute unakzeptablen Bestandshöhen. Die aktuelle Konjunkturkrise unterstreicht die Bedeutung verfügbaren Kapitals und geißelt somit die hohen Bestände der Vergangenheit, die Bargeld binden und damit die operativen Handlungsmöglichkeiten einer Unternehmung reduzieren. Zusätzlich erwarten die Kapitalgeber für ihren Einsatz eine Rendite, die finanziert werden muss.
Darüber hinaus erhöhen Bestände das Vernichtungsrisiko. Welchen Wert haben kundenspezifische Waren im Lager, wenn der Kunde sich für einen konkurrierenden Lieferanten entscheidet oder aber die Spezifikation ändert? Hohe Bestände reduzieren zusätzlich die Reaktionsgeschwindigkeit auf veränderte Marktanforderungen. Schließlich müssen die noch vorhandene Produktmenge verkaufen werden, bis das verbesserten Produkt auf den Markt gebracht werden kann.
Die folgenden Umsetzungshilfen unterstützen Sie bei der Flexibilisierung Ihrer Prozesse. Gehen Sie dabei in vier Schritten vor:
- Strategie festlegen
- Planung und EDV anpassen
- Mitarbeiter befähigen
- Technische Anpassung
1. Strategie festlegen
Zunächst müssen Sie unbedingt und als erstes die Frage beantworten, ob Ihre Organisation durch Erhöhung der Flexibilität zusätzliche Wettbewerbsvorteile erzielen kann?
Ist dies nicht der Fall, haben Sie vermutlich Kostenführerschaft als Wettbewerbsstrategie gewählt. Dann dürfen Produktionskosten nicht durch Flexibilisierungskosten belastet werden. Halb flexibel und halb kostengünstig führen häufig in die Todeszone Mittelmaß. Fraglich bleibt jedoch, ob am Standort Deutschland die Strategie Kostenführerschaft in der Fertigung überhaupt nachhaltig ist. Die neuen Massenmärkte – wie China – haben klare Skalenvorteile.
Können Sie aus zusätzlicher Flexibilisierung Wettbewerbsvorteile erzielen, so müssen Sie entscheiden, in welcher Form der Markt Flexibilität honoriert? Können Sie Marktvorteile generieren indem Sie die herstellbare Produktpalette erweitern? Oder ist es entscheidender mit hoher Geschwindigkeit auf schwankende Verkäufe reagieren zu können? Je nachdem ob erweiterte Produktpalette oder schwankende Losgrößen, das Produktionsequipment wird sich unterscheiden müssen. Beachten Sie: „Strategie treibt Technologie“, nicht umgekehrt!
2. Planung und EDV ausrichten
„Planung überführt Zufall in Irrtum“ ist kein Zitat sondern bittere betriebliche Realität. Natürlich ist es richtig und wichtig sämtliche einfach verfügbare Marktinformation – spezielle Aktionen beim Kunden – zu nutzen. Doch wie vorhersagbar ist das Kaufverhalten der Kunden wirklich? Je nach Kunden- und Marktstruktur bleibt jede Absatzprognose nur eine Schätzung, die sich letztlich als falsch erweisen wird. Im Vertrieb reduziert jedoch jede Stunde Absatzplanung die verfügbare Zeit für die Generierung von echtem Umsatz.
Vorsicht vor EDV-Systemen
EDV-Systeme funktionieren häufig wie flüssiges Beton. Sie werden in die Organisation geschüttet, härten aus und reduzieren schließlich die Flexibilität. Es schadet der Wettbewerbsfähigkeit, wenn EDV-Systeme Arbeitsabläufe definieren und nicht umgekehrt. Werden es Ihre Kunden akzeptieren, dass Sie keine Musterlieferung schicken können, da Sie ja nicht wissen, wie Sie diese Lieferung in ihrem EDV-System abbilden können? Werden Ihre Kunden akzeptieren, dass ein personalisiertes Etikett bei Ihnen 12 Wochen Vorlaufzeit benötigt? Wer ist Herr über ihre Prozesse, Sie oder ihre IT?
3. Mitarbeiter als Schlüssel zur Flexibilisierung
Sehr gute Mitarbeiter werden immer flexibler als die beste automatisierte Lösung sein. Upton zeigte am Beispiel der Papierindustrie, dass Mitarbeiter im Gegensatz zur computergesteuerten Umstellung aufgrund ihrer Erfahrung bessere Rüstzeiten erzielen. Mitarbeiter hören, riechen, fühlen. Computer – zu mindestens vorerst – nicht. Deshalb müssen auch ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Notwendigkeit zur Erhöhung der Flexibilität verstehen und akzeptieren. Aber was heißt das für Mitarbeiter und Führungskräfte?
3.1 Mitarbeiter ausbilden
Mehrfachqualifikation ist ein wesentlicher Baustein, um die Flexibilität zu erhöhen. Je vielseitiger ein Mitarbeiter eingesetzt werden kann, desto schneller können Sie den Mitarbeitereinsatz den Schwankungen Ihrer Kundenaufträge anpassen. Arbeitsplatzflexibilität ist dann gegeben, wenn alle Maschinen innerhalb von 24 Stunden zwischen 1- und 3-Schicht Betrieb variieren können.
3.2 Richtige Teamzusammensetzung
Je erfahrener die Mitarbeiter sind, desto breiter ist in der Regel die herstellbare Produkpalette. Hingegen sind jüngere Mitarbeiter oder Quereinsteiger häufig innovativer bei der Reduktion von Rüstzeiten.
3.3 Zeiterfassung abschaffen
Wollen die Kunden Zeit oder Produkt? Stellen Sie Kundenbedürfnisse in den Mittelpunkt Ihrer Aktivitäten. Ihre Kunden geben den Arbeitstakt vor. Der Arbeitstag, die Arbeitswoche ist beendet, wenn alle Kundenaufträge erfüllt sind. Ist dieser Zeitpunkt früh, dann gut für den Mitarbeiter, ist der Zeitpunkt spät, dann wird der Mitarbeiter aktiv seine Arbeitsprozesse verbessern. Zahlen Sie jedoch nach Zeit, werden Sie Zeit erhalten!
4. Technische Anpassung
Nutzen Sie einen Teil des durch Bestandsreduktion freigesetzten Kapitals, um Ihr Produktionsequipment an Ihre Flexibilisierungsstrategie anzupassen. Während durch Bestände gebundenes Kapital Verschwendung – da unproduktiv – ist, wird das Kapital durch Flexibilisierung der Produktionseinrichtung produktiv
Aber auch bei der Flexibilisierung in der Prozessindustrie gelten die gleichen Grundregeln, wie bei allen Veränderungsprozessen. Man erhält nur, was man konsequent misst und visualisiert. Daher muss ein letzter Grundsatz beherrscht werden:
Flexibilität messen.
Man bekommt was man misst. Zeigen Sie ihren Mitarbeitern, wo sie stehen und wo sie hin wollen. Typische Kennzahlen für ein flexibles Unternehmen sind niedrige Durchlaufzeit, Anzahl der Produkte, Rüstzeiten, Umschlagshäufigkeit ihrer Bestände und „time-to-market“ Zeiten bei neuen Produkten. Als Indikator für die Motivation der Mitarbeiter ist die krankheitsbedingte Abwesenheit ebenso dienlich, wie ihre Unfallrate.
Viel Erfolg bei der Umsetzung! Enrico Briegert & Thomas Hochgeschurtz
Ressourcen:
De Treville, Suzanne, Bendahan, Samuel, and Vanderhaeghe, Annelies (2007): Manufacturing flexibility and performance: bridging the gap between theory and practice, International Journal of Flexible Manufacturing Systems, Vol. 19, pp. 334-357.
Upton, D. (1995): What really makes factories flexible?, Harvard Business Review, July-August, pp. 74-84