UH58: Darf man trotz Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seine Arbeit aufnehmen?

UMSETZUNGSHILFE Nr. 58
Darf man trotz Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seine Arbeit aufnehmen?

2. überarbeitete Version vom 8.4.2025

Ihre Umsetzungshilfe kompakt:

  1. Der Arzt bescheinigt die voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit, nicht ein Arbeitsverbot. Die AUB/eAU ist eine Prognose – keine Sperre.
  2. Arbeitsunfähig ist, wer seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit krankheitsbedingt, nicht mehr oder nur unter Risiko der Verschlimmerung ausführen kann.
  3. Der Mitarbeiter entscheidet selbst, ob er sich wieder arbeitsfähig fühlt und darf auch vor Ablauf der AUB/eAU wieder zur Arbeit kommen – ohne „Gesundschreibung“.
  4. Wenn Sie möchten, dass Mitarbeiter früher zurückkehren, klären Sie diese aktiv über ihre Rechte und Möglichkeiten im Umgang mit der AUB/eAU auf.
  5. Auch bei vorzeitiger Rückkehr zur Arbeit besteht voller gesetzlicher Unfallversicherungsschutz. Die tatsächliche Arbeitsaufnahme ist entscheidend.
  6. Stellt der Mitarbeiter während der Arbeit fest, dass er sich überschätzt hat, können Sie bis zum ursprünglich bescheinigten AU-Ende kulant auf eine neue Bescheinigung verzichten.
  7. Nehmen Sie Ihre Fürsorgepflicht ernst: Wenn Sie den Eindruck haben, dass ein Mitarbeiter offensichtlich nicht arbeitsfähig ist, dürfen Sie ihn nicht weiterarbeiten lassen.
  8. Was gilt bei Krankheit im Homeoffice?

Arbeiten trotz AUB/eAU – was Sie als Führungskraft wissen müssen

Nörzig hatte sich am Sonntag bei der Gartenarbeit mit einem Messer in die linke Hand geschnitten. Die Wunde musste genäht werden. Da Nörzig in der Montage tätig ist, stellte ihm der Arzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für fünf Tage aus.
Am dritten Tag konnte Nörzig seine Hand wieder belasten. Er fühlte sich fit und wollte wieder arbeiten. Deshalb rief er seinen Vorgesetzten an und fragte, ob er trotz der noch laufenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren dürfe. Sein Vorgesetzter war unsicher. Darf er Nörzig arbeiten lassen? Ist Nörzig dann überhaupt versichert?
Die kurze Antwort: „Ja“, darf er. Warum das so ist – und was dabei zu beachten ist – erfahren Sie in dieser Umsetzungshilfe.
Wir beantworten die acht wichtigsten Fragen rund um das Thema: „Arbeiten trotz Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“:

1. Wer entscheidet in Deutschland, ob jemand arbeitsunfähig ist?

Ob jemand arbeitsunfähig ist, entscheidet grundsätzlich der Mitarbeiter selbst. Fühlt sich jemand nicht arbeitsfähig, muss er dem Arbeitgeber unverzüglich seine Arbeitsunfähigkeit anzeigen.
Gesetzlich muss die arbeitsunfähige Person dann ab dem vierten Kalendertag der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB/eAU) vorlegen. In vielen Betrieben gilt jedoch aufgrund betrieblicher oder tarifvertraglicher Regeln „gelber Schein ab 1. Tag“. Im Urlaub gilt generell „gelber Schein ab 1. Tag“.

2. Wann ist jemand arbeitsunfähig?

„Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn Versicherte auf Grund von Krankheit ihre zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen können. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.“ Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (§2 Abs.1 vom 21.02.2024).

Daraus ergibt sich: Der behandelnde Arzt ist verpflichtet den Versicherten nach der konkret ausgeübten beruflichen Tätigkeit zu fragen. Erst auf dieser Grundlage kann beurteilt werden, ob die aktuelle gesundheitliche Einschränkung die Ausübung dieser Tätigkeit verhindert oder gefährdet.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Mitarbeiter hat sich den kleinen Finger der linken Hand verstaucht. Ob er arbeitsunfähig ist, hängt von seiner konkreten Tätigkeit ab:

  • In der Montage: Hier sind beide Hände meist voll im Einsatz – die Verstauchung kann eine erhebliche Einschränkung darstellen. Also: Arbeitsunfähig.
  • In der Personalabteilung: Die Arbeit erfolgt überwiegend am PC oder telefonisch. Die Einschränkung ist hier in der Regel gering. Also: Nicht arbeitsunfähig.

Fazit: Arbeitsunfähigkeit ist keine abstrakte medizinische Einschätzung, sondern hängt immer vom Zusammenspiel zwischen Krankheitsbild und konkreter beruflicher Tätigkeit ab.

3. Wer entscheidet, ob der Mitarbeiter wieder arbeitsfähig ist?

Ob jemand wieder arbeitsfähig ist, wird in der Regel vom Mitarbeiter selbst entschieden. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Arztes stellt nämlich kein „Arbeitsverbot“ dar, sondern bescheinigt eine voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit. Das bedeutet: Wurde ein Mitarbeiter beispielsweise für eine Woche – von Montag bis Freitag – arbeitsunfähig geschrieben, darf er dennoch vorzeitig wieder zur Arbeit kommen – sofern er sich arbeitsfähig fühlt. Ein ärztliche „Gesundschreibung“ ist in Deutschland in der Regel nicht erforderlich.

4. Aus welchen Gründen nehmen Mitarbeiter die Arbeit nicht früher wieder auf, obwohl sie sich wieder arbeitsfähig fühlen?

Der häufigste Grund: Viele Mitarbeiter wissen nicht, dass sie vor Ablauf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wieder zur Arbeit zurückkehren dürfen. Ein weitverbreiteter Irrtum lautet: „Wenn ich trotz Krankschreibung wieder arbeite, bin ich nicht versichert.“ Dieses Ammenmärchen hält sich seit Jahren hartnäckig – ist jedoch falsch.
Richtig ist: Auch bei einer vorzeitigen Rückkehr zur Arbeit besteht der volle Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist kein Arbeitsverbot, sondern lediglich eine Prognose über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit.
Unser Tipp: Schulen Sie Ihre Mitarbeiter zum Umgang mit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – nutzen Sie dazu Ihre Umsetzungshilfe 42 „Fehlzeiten reduzieren, als gemeinsames Ziel“.
Ein weiterer Grund, warum Mitarbeiter, die sich schon wieder arbeitsfähig fühlen, nicht früher zurückkehren: Die Motivation zur Arbeit hat nachgelassen. Die Motivation der Beschäftigten in Deutschland ist auf der Strecke geblieben. So zeigten 2024 nur noch 9% der Arbeitnehmenden in Deutschland beim Gallup Engagement Index eine hohe emotionale Bindung. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 waren es immerhin noch 17%.
Dies hat einen direkten Einfluss auf die Entscheidung auf der Bettkante. Dann wird der „Gelbe Schein“ zur Chance vom ungeliebten Arbeitsplatz fernzubleiben. Warum sollte der Mitarbeiter früher kommen? In diesem Fall empfehlen wir an der Arbeitsmotivation Ihrer Beschäftigten zu arbeiten. Wertvolle Tipps hierfür finden Sie in Ihrer Umsetzungshilfe Nr. 73: „Was wirklich motiviert.“

5. Ist man versichert, wenn man trotz gültiger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seine Arbeit vorzeitig aufnimmt?

Auch bei Tätigkeiten trotzt laufender Arbeitsunfähigkeit besteht voller gesetzlicher Unfallversicherungsschutz.
Viele Berufsgenossenschaften bestätigen den Versicherungsschutz inzwischen auf ihrer Homepage. So schreibt die BG Rohstoffe und chemische Industrie (BGRCI): „Wenn Sie trotz einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit vorzeitig Ihre Arbeit wieder aufnehmen, so sind Sie dabei versichert. Für die Frage, ob Sie unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen, kommt es grundsätzlich auf die tatsächliche Arbeitsleistung an, nicht auf die Frage der attestierten Arbeitsunfähigkeit.“

6. Was passiert, wenn der Mitarbeiter die vorzeitig wieder aufnimmt und merkt, dass er doch noch nicht vollständig arbeitsfähig ist?

Wenn sich im Laufe des Arbeitstages zeigt, dass die gesundheitliche Belastung doch noch zu groß ist, liegt eine erneute Arbeitsunfähigkeit vor. Diese muss der Mitarbeiter seinem Arbeitgeber erneut unverzüglich anzeigen.
Ob darüber hinaus eine neue ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erforderlich ist, hängt vom weiteren Verlauf ab. Endet die erneute Arbeitsunfähigkeit spätestens mit dem ursprünglich bescheinigten Datum, sollte der Arbeitgeber kulant auf einen neuen Nachweis verzichten.

Wir empfehlen dieses Vorgehen, um die gezeigte Bereitschaft zur früheren Rückkehr nicht zu erschweren, sondern zu würdigen – und dem Mitarbeiter das Signal zu geben, dass Engagement willkommen ist. Darüber hinaus vermeiden Sie zusätzlichen sinnlosen Aufwand – z.B. erneute Arztbesuche und Sie fördern die Bereitschaft zur eigenverantwortlichen Rückkehr.
Beispiel: Ihr Mitarbeiter war bis Freitag arbeitsunfähig geschrieben. Am Mittwoch kehrt er zurück, merkt aber gegen Mittag, dass es gesundheitlich noch nicht und geht wieder nach Hause. Der Arbeitgeber kann in diesem Fall entscheiden, bis Freitag auf eine neue Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu verzichten, da sich der Zeitraum mit der ursprünglichen Arbeitsunfähigkeit deckt.
Wichtig: Dauert die Arbeitsunfähigkeit über den ursprünglichen Freitag hinaus an, ist eine neue ärztliche Bescheinigung erforderlich.

7. Worauf müssen Sie als Vorgesetzter achten, wenn ein Mitarbeiter die Arbeit vorzeitig aufnimmt?

Hier gilt dasselbe, wie an jedem anderen Arbeitstag auch: Wenn Sie als Vorgesetzter der Meinung sind, dass Ihr Mitarbeiter arbeitsunfähig ist, dann dürfen Sie den Mitarbeiter nicht arbeiten lassen. Beachten Sie, dass Sie als Vorgesetzter eine Fürsorgepflicht für Ihre Mitarbeiter haben. Im Zweifel empfehlen wir Ihnen ein offenes Gespräch mit dem Mitarbeiter darüber zu führen.

8. Was gilt bei Krankheit im Homeoffice? – Arbeits(un)fähigkeit und mobile Arbeit

Die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, führt häufig zu Unsicherheiten. Darf ich trotz Krankheit von zu Hause aus arbeiten? Muss ich mich überhaupt arbeitsunfähig schreiben lassen?
Grundsätzlich gilt: Auch im Homeoffice ist arbeitsrechtlich eindeutig zu unterscheiden zwischen arbeitsfähig und arbeitsunfähig – unabhängig vom Arbeitsort. Wer krank ist, aber seine vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht oder nur unter Gesundheitsrisiken ausüben kann, gilt als arbeitsunfähig – auch dann, wenn die Tätigkeit rein digital im Homeoffice möglich wäre.
Es gilt also: arbeitsunfähig ist arbeitsunfähig. Entweder jemand ist arbeitsunfähig (dann darf er nicht arbeiten und hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung) – oder arbeitsfähig (dann kann er normal arbeiten). Ein Dazwischen kennt das deutsche Arbeitsrecht nicht. Es gibt in Deutschland keine Teil-Arbeitsunfähigkeit.
Achtung: Akzeptieren Sie in diesem Zusammen keine sogenannten Homeoffice-Atteste als Ersatz für eine Arbeitsunfähigkeit. Diese haben keinen rechtlichen Status und können das Direktionsrecht des Arbeitgebers nicht aushebeln. Denn über den Ort der Arbeitsausführung entscheidet in der Regel der Arbeitgeber, nicht der Mitarbeiter.
Praxisempfehlung Homeoffice bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit: Homeoffice ist kein Ersatz für eine Arbeitsunfähigkeit – wohl aber eine Option, wenn ein Mitarbeiter nicht voll belastbar ist. Gegen eine Tätigkeit im Homeoffice ist nichts einzuwenden, wenn die Arbeit leidensgerecht ist, sie vertraglich abgedeckt oder einvernehmlich geregelt wurde und wenn Mitarbeiter und Vorgesetzter damit einverstanden sind.

Viel Erfolg bei der Umsetzung.
Enrico Briegert & Thomas Hochgeschurtz

Diese UH als PDF downloaden
Ressourcen:
Briegert, E. und Hochgeschurtz, T. (2012): Führung, ikotes Verlag, Bühl.
Briegert, E. und Hochgeschurtz, T.: Krankheitsbedingte Abwesenheit durch Motivation reduzieren, Umsetzungshilfe Nr. 22
Briegert, E. und Hochgeschurtz, T.: Motivation in der Praxis, Umsetzungshilfe Nr. 23
Briegert, E. und Hochgeschutz, T.: Kurzschulung Fehlzeiten reduzieren als gemeinsames Ziel, Umsetzungshilfe Nr. 42

Möchten Sie Führung verbessern?

  • Erfolgreich Gespräche führen?
  • Krankheitsbedingte Fehlzeiten reduzieren?
  • Arbeitsunfälle vermeiden?

Nutzen Sie unsere offenen Seminare! Wir kommen auch zu einer Inhouse-Schulung in Ihr Unternehmen! Schicken Sie eine E-Mail an: kontakt@briegert-hochgeschurtz.com oder besuchen Sie unsere Homepage für weitere Informationen.


UH59: Kurzschulung: Unfälle vermeiden

 

UH57: Den Handlungsspielraum Ihrer Mitarbeiter erhöhen