UH55: Redelegation vermeiden

UMSETZUNGSHILFE Nr. 55
Redelegation vermeiden

 

Februar 2014, Diese UH als PDF downloaden

Der Betonbaustil des Gebäudes aus den 70er Jahren wirkte ebenso erdrückend wie das kalte Neonlicht über der Staplerfahrstraße. Diverse Neonröhren hatten noch mit der Morgenmüdigkeit zu kämpfen und zuckten wie Stroboskoplicht in der Diskothek. Um zwei enge Kurven herum erreichte ich mein neues Büro. Per Schäfer führte mich eine enge Stahlgittertreppe hinauf in eine Art Hochstand. Die Luft in dem Büroraum war lausig kalt, eine Klimaanlage röhrte im Hintergrund.
Per führte mich in einen drei auf drei Meter großen Glaskasten in der Ecke des Hochstandes. Diese Kiste bestand aus einem Stahlrahmen mit altem Sicherheitsglas, welches mit seinem eingelassenen Draht an einen Hamsterkäfig erinnerte.
„Das ist Ihr Schreibtisch, ich habe bereits alle meine Sachen ausgeräumt“, strahlte mich Per an. Er schien sich wirklich zu freuen, seinen alten Job loszuwerden.
Nach dem ersten Eindruck eines Hamsterkäfigs dachte ich nun eher an Kino: Ich saß wie der Clownfisch Nemo aus „Findet Nemo“ in einem Aquarium, nur nicht bei einem Zahnarzt. Auch wenn mein mulmiges Gefühl dem ähnelte, dass ich immer im Wartezimmer meiner Zahnärztin habe.
Mein Vorgänger hatte an seinem neuen Schreibtisch außerhalb des Aquariums Platz genommen und schielte zu mir herüber. Da wurde die Tür zum Hochstand aufgerissen und ein mindestens 120 Kilogramm schwerer Koloss trat ein. Ein kurzer Blick durch den Raum und er wandte sich mit einer Frage an Per. Dessen Blick ging sofort nach unten und er zeigte auf mein Aquarium – oder auf mich, ich war mir nicht sicher.
„Guten Tag, mein Name ist Sky Brennan“, stellte sich der riesige Kerl vor, der soeben die Türe des Aquariums geöffnet hatte. „Ich bin der Schichtmeister!“
„Hallo, ich bin Tim Simon, der neue Betriebsleiter“, antwortete ich.
„Ich weiß“, grinste Sky, „Ihr erster Tag heute.“
„Was kann ich für Sie tun?“, wurde ich sachlich.
„Am Kalander 6 ist eine Welle defekt!“, sagte Sky und schaute mich an.
Ich hatte das Gefühl, dass mit dem Öffnen des Aquariums mein Selbstvertrauen hinausgeschwemmt worden war. Ich musste Zeit gewinnen und eine Frage stellen.
Sky ergänzte: „Sollen wir die Welle sofort wechseln, oder sollen wir die Welle erst bei der nächsten Wartung austauschen?“
„Herr Brennan, wer kennt sich am Kalander 6 besser aus, Sie oder ich?“
Die Klimaanlage war verstummt, es herrschte gespenstische Ruhe im Raum. Alle Kollegen spitzten die Ohren. Anscheinend hatte die imaginäre Flutwelle aus dem Aquarium auch Skys Selbst-sicherheit hinausgespült. Konnte er mir am ersten Tag sagen, dass ich keine Ahnung hatte? Und das vor den anderen?
Ein Lächeln auf Skys Lippen verriet, dass er die rettende Antwort gefunden hatte. „Heute kenne ich mich vielleicht noch besser aus, aber morgen werden Sie das sein“, freute er sich.
„Herr Brennan, wie viele Jahre arbeiten Sie in diesem Betrieb?“
Stolz erfüllte den massigen Körper. „Ich arbeite hier jetzt über fünfundzwanzig Jahre.“
Ich zeigte Bewunderung und fragte weiter: „Herr Brennan, glauben Sie, dass ich Ihre fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung jemals aufholen kann?“
Er grinste: „Nein!“
„Also, Herr Brennan, wenn Sie sich besser auskennen, wer kann dann besser beurteilen, ob die Welle gewechselt werden muss oder nicht?“
„Ich“, konstatierte Sky mutlos. Schweigen.
Sky Brennan drehte sich herum und wollte gehen.
Ich stoppte ihn: „Herr Brennan, haben Sie jetzt irgendeine neue Information durch unser Gespräch erhalten?“

Sky war unsicher und überlegte kurz, bevor er antwortete: „Nein.“
„Sie haben vorher gewusst, dass ich keine Ahnung von der Maschine habe und schlechter als Sie entscheiden kann, was zu tun ist, oder?“
„Stimmt.“
„Also, warum sind Sie gekommen?“
Jetzt entstand eine unangenehm lange Pause.

Wenn Ihr Chef Sie fragt, was am Kalander 6 los ist, müssen Sie das doch wissen“, argumentierte Sky nach längerer Bedenkzeit.
„Wenn mein Chef mich fragt, werde ich ihn an Sie verweisen“, antwortete ich.
„Sie sind der Herr über das Wartungsbudget“, wage Sky eine andere Argumentation für sein Kommen. „Da müssen Sie wissen, wenn es größere Ausgaben gibt.“
„Herr Brennan, nehmen wir an, das Wartungsbudget ist leer und die Welle muss unbedingt sofort getauscht werden, was tun wir dann?“
„Dann tauschen wir die Welle.“
„Und wenn das Wartungsbudget überquillt und die Welle nicht gewechselt werden muss, was machen wir dann?“ Sky schien langsam zu verstehen.
„Dann wechseln wir sie natürlich nicht.“ „Also, vom Wartungsbudget hängt es auch nicht ab“, resümierte ich.
Etwas von dem Aquarium-Wasser kehrte zurück und erhellte Skys Augen. „Okay, ich entscheide das selbst!“ Sky wandte sich ab und wollte den Hochstand verlassen.
„Warten Sie noch einen Augenblick. Warum sind Sie zu mir gekommen?“, fragte ich erneut.
Es ist immer wieder hilfreich, unbeantwortete Fragen erneut zu stellen. Bis man eine ausreichend gute Antwort bekommt.
Sky blickte Hilfe suchend zu seinen Kolleginnen und Kollegen, aber kein Augenpaar wollte das seine treffen. „Ich weiß nicht!?“ …

Wissen Sie, warum Sky Brennan seinen Betriebsleiter mit einer Frage aufgesucht hat, die er selber hätte besser beantworten können?

1. Redelegation erkennen

Sky Brennan versucht die Aufgabe an seinen Vorgesetzten zu redelegieren.
Er führt eine Rückversicherung bei seinem Vorgesetzten durch. Erweist sich die Entscheidung später als falsch, ist der neue Betriebsleiter schuld.
Erkennen Sie, wenn andere Personen versuchen Aufgaben zu redelegieren? Wollen Sie, dass Ihre Mitarbeiter Aufgaben an Sie redelegieren?
Viele Vorgesetzte klagen über Druck, Arbeitsverdichtung und Überlast. Bei einer genauen Analyse der Tätigkeit , ist jedoch häufig festzustellen, dass die Vorgesetzten nahezu alles wissen wollen, mitreden und entscheiden wollen.
Ob das gut oder schlecht ist?
Es kommt darauf an, was Sie wollen:

2. Jeder Vorgesetzte hat die Mitarbeiter, die er verdient

Die Personalabteilung bzw. die Vorgesetzten machen immer den gleichen Fehler, sie stellen intelligente Mitarbeiter ein. Diese Mitarbeiter wissen:
„Jeder Mitarbeiter ist nur so gut, wie er die Erwartungen seines Vorgesetzten erfüllt! “
Also versuchen die Mitarbeiter die Erwartungen des Chefs zu erraten. So auch Sky Brennan in dem Abschnitt aus dem Roman „Konsequent“. Sky Brennan will ein guter Mitarbeiter sein und versucht die Erwartungen des neuen Chefs zu erraten.
Leider liegt er bei seinem neuen Betriebsleiter Tim Simon falsch mit der Vermutung, dass dieser alles wissen will, jede Entscheidung treffen und jede Ausgabe der Kostenstelle persönlich kontrollieren will. Bei einem anderen Vorgesetzten könnte Sky Brennan ein guter Mitarbeiter sein, bei Tim Simon ist er es nicht.
Jeder Chef hat die Mitarbeiter, die er verdient.

3. Redelegation vermeiden

Mitarbeiter redelegieren auf allen üblichen Kommunikationswegen:

3.1 Mitarbeiter kommt zu Ihnen und fragt, was er tun soll

Wenn Mitarbeiter zu Ihnen kommen und eine Entscheidung möchte, prüfen Sie für sich, ob sie diese Entscheidung tatsächlich fällen müssen, oder ob der Mitarbeiter das nicht ohne Sie kann, darf und soll.
Wenn Sie Regelegation verringern wollen, fragen Sie den Mitarbeiter: „Warum kommst Du damit zu mir?“
Wenn Sie jeden Mitarbeiter, der zu Ihnen kommt, diese Frage stellen, werden sich die Mitarbeiter diese Frage nach einer gewissen Zeit selbst beantworten, bevor sie zu Ihnen kommen. Damit reduzieren Sie die Redelegations-Flut bereits signifikant.
Hat der Mitarbeiter einen plausiblen Grund (z. B. Unterschriftsberechtigung), ändern Sie (sofern möglich) die Regeln und Strukturen dahingehend, dass bei einem gleichartigen Fall in Zukunft der Mitarbeiter alleine entscheiden kann, will und darf.

3.2 Mitarbeiter schickt eine Mail, bei der Sie in „cc“ stehen

Die denken „kein Problem?“ Weit gefehlt. Sollte der Sachverhalt später ungünstig verlaufen, wird der Mitarbeiter immer sagen „Chef, Sie haben das doch gewusst.“
Wenn Sie die Flut der cc-Mails eindämmen wollen, fragen Sie jeden Absender „warum er Ihnen diese Mail geschickt hat.“ Aber Achtung: Wählen Sie stets eine Kommunikations-Ebene höher. Bei einer Mail senden Sie keine Mail zurück, sonst erzeugen Sie unsägliche Ketten-E-Mails.
Gehen Sie persönlich zum Absender der E-Mail und klären, ob sie solche Mails in Zukunft tatsächlich bekommen müssen. Ist ein persönlicher Besuch nicht möglich, greifen Sie zumindest zum Telefon.
Es bedeutet für Sie zunächst einen Mehraufwand, aber mittelfristig zahlen sich diese persönlichen Gespräche aus. Die Mitarbeiter wissen vor jeder Mail an Sie, dass die „warum“-Frage kommen wird und werden sich diese gleich selbst beantworten. Meistens verschwinden Sie dann vom Verteiler.

4. Die Redelegationsfalle

Die Maßnahmen klingen einfach, aber sind schwer durchzuhalten, denn was sind die Fragen Ihrer Mitarbeiter für Sie noch? Wertschätzung!
Jede Frage eines Mitarbeiters ist ja auch gleichzeitig Wertschätzung für Sie, dass Ihre Meinung zählt und Sie wichtig sind. Fallen Sie nicht in die Wertschätzungsfalle und entwickeln Sie Ihre Mitarbeiter zu eigenverantwortlich handelnden Mitarbeitern.
Lassen Sie Redelegation nicht zu! Viel Erfolg bei der Umsetzung.
Enrico Briegert + Thomas Hochgeschurtz
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Ressourcen:
Hochgeschurtz, Thomas (2013): Konsequent. – Das Buch zum Nicht-Technischen-Training, 2. Auflage. ikotes-Verlag, Bühl.

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